Hamburg von einer unbekannten Seite – jenseits von Coffee to go und Elbphilharmonie.

Chris, der zeitweise auf der Straße lebte, zeigt uns Hamburg von einer uns bis dato weitgehend unbekannten Seite – jenseits von Coffee to go und Elbphilharmonie.

Am 30. August 2022 hat unsere Klasse, die 12f, an der „Alternativen Stadtführung” teilgenommen. „Was ich heute mit euch mache, das ist Therapie. Denn nichts anderes macht man beim Therapeuten, man erzählt – von sich und von dem, was schiefläuft in der Welt.“
So begrüßte uns Chris am Jakobikirchhof unweit der Mönckebergstraße. Chris lebte selbst einige Jahre auf der Straße. Chris wusste, dass Obdachlosigkeit oftmals mit psychischen Problemen sowie Drogenabhängigkeit zusammenhängt. Hierbei sprach er vor allem von Depressionen und Alkoholsucht. Chris sagt uns, es wären aktuell 2000 Obdachlose in Hamburg registriert, wobei die realen Zahlen viel höher lägen.

Wie kommt es zu Obdachlosigkeit? Chris erzählt:

Häufig beginnt der erste Drogen-Kontakt mit 12 – 22 Jahren.
Meist geht es los mit Alkohol, später geht‘s dann weiter mit Grass/Marihuana und steigert sich zu Heroin, Koks, Crystal Meth usw. Chris sagt, der Drogenkonsum kostet anfangs vielleicht noch 40-50 Euro im Monat. Später dann, wenn die Toleranzschwelle steigt, müssen Abhängige – je nach Droge – um die 200-300 Euro täglich zusammen kratzen. Um dies zu bezahlen nimmt man anfangs häufig Kredite auf – erst bei Freunden, dann bei der Bank. Später geht oft das Klauen bei der Familie los und danach verkauft man alles, was einem lieb und teuer ist. Zum Schluss, wenn man nichts mehr hat, bietet man seinen Körper an.
Die Schere zwischen reich und arm wird größer (Reiche werden reicher und Arme werden Ärmer). Chris macht uns klar, dass dies nicht die Schuld der 42000 Millionäre (Angabe nicht überprüft!) sei, sondern die Schuld des Systems, das diese Schere zur Wahrheit werden lässt.

Und wenn man dann auf der Straße gelandet ist, was macht man dann?

Laut Chris sei es meist weitaus schlimmer in Obdachlosenunterkünften zu schlafen als draußen auf „der Platte“. Die Unterkünfte seien meist überfüllt, laut und ohne Rückzugsort. Es käme auch zu Gewalt.
Es gibt zwar eine Behörde, die für Menschen ohne festen Wohnsitz zuständig ist (Kleine Reichenstraße), trotzdem hätten die meisten Obdachlosen keine Versicherung, weshalb sie oft nicht oder erst sehr spät zum Arzt gehen.
Es gibt ein Gebäude in der Innenstadt, das so genannte Drop in. Das Drop in ist eine Drogeneinrichtung, wo drogenabhängige sichere Rückzugsorte finden, um ihrer Krankheit (Sucht) nachzugehen. Hier erhalten sie zwar keine Drogen, aber dafür hygienische Bedingungen und Gesprächspartner:innen.

Wie ernährt man sich ohne festen Wohnsitz?

In Hamburg gibt es die Tafel. Das Problem ist nur, diese ehrenamtlich geführten Einrichtungen haben zu wenig Ware, weshalb man sich laut Chris weitgehend selbst um sein Essen kümmern muss. Als Obdachloser benötigt man 30 Euro oder mehr pro Tag – du kannst nichts lagern, nicht kochen. Ein hoher Betrag und für Chris nur durch Hinz und Kunzt zu stämmen. Chris appelliert an uns: „Wenn ihr könnt, dann esst gesund, esst Bio. Esst nicht dieses Billigfleisch und vergiftetes Gemüse. Als Obdachloser hast du keine Wahl. Keine Chance.“

Chris erzählte uns, dass Anwohner:innen auf öffentlichen Plätzen schon Rattengift gegen Obdachlose verteilt hätten, es Betrunkene gibt, die als Mutprobe Menschen auf der Straße verprügeln oder gar anzünden. Wir sind schockiert.

Am Ende der Führung standen wir vor der Redaktion von Hinz und Kunzt und Chris gab uns noch einen Einblick in sein Leben. Er erzählte uns davon wie er in jungen Jahren auf die Straße landete und von seiner Ausbildung als Dachdecker, die er nicht abschließen konnte Außerdem auch von seiner großen Liebe namens Ute, die nach 10 gemeinsamen Jahren an Krebs erkrankte und in seinen Armen starb. Und dann, als sein Leben völlig zerstört war, Hinz und Kunzt ihm wieder auf die Beine geholfen hat. Alles in allen fanden wir seine Führung sehr berührend, wir haben auch viel Neues von Chris gelernt, auf unserem Spaziergang hinter Hamburgs Kulissen.

Lasse Franz & Alessandro Lunardi