Neues Kapitel für Saša Stanišićs Roman „Vor dem Fest“. Shari Malzahn aus dem Oberstufenprofil Medien hat im Rahmen der Vorabiturprüfung in Deutsch die produktive Schreibaufgabe sehr gut gelöst – viel Spaß beim Lesen!

Computer Schreiben - Quelle Pixabay janeb13

WIR HABEN EIN MÄUSEPROBLEM. Sie sind überall. Machen sich über unsere Speisekammern her. Das ärgert besonders die Zugezogenen, denn wen sollen sie denn um Hilfe bitten, wenn doch keiner sie leiden kann. Ja, wir haben wahrlich ein Mäuseproblem. Und trotzdem feiert Poppo von Blankenburg – Landmaschinenmogul, macht öfter Gebrauch von seinem „von“, als es seine Tochter Magdalene tut – sein eigenes kleines Fest. Er lädt dazu Freunde und Familie auf sein frisch saniertes Landschlösschen ein. Ein schöner Ort, sagen manche. Andere sagen das nicht. Suzi zum Beispiel, der seit der Sanierung nun immer über einen Zaun klettern muss, um an seine Lieblingsangelstelle zu gelangen. Oder Cécile. Die Tochter zweier Eltern, die wiederum Freunde der Familie von Blankenburg sind. Und damit auch eingeladen. Eigentlich ist es nicht das Anwesen, das Cécile nicht leiden kann. Es sind viel mehr die Menschen, denen es gehört. Oder Cécile kann Menschen einfach nicht leiden und ist lieber allein, wir können nur spekulieren, wir wissen es nicht. Außer einen Menschen, den konnte sie schon leiden, als sie das letzte Mal hier war. Gesprochen haben die nicht, aber Magdalene hat erzählt, was sie halt so von ihm weiß.

Es klopft an der Tür zum Gästezimmer, in dem Cécile steht und stumm aus dem Fenster schaut. „Ja.“ sagt sie und denkt, das müsse genügen für denjenigen, der reinkommen will. Tut es auch. Die Tür öffnet sich knarrend und Magdalene von Blankenburg tritt ein. „Es wird zum Essen gerufen.“ Sie streckt nur ihren Kopf durch den offenen Spalt, kommt nicht ganz in den Raum. Ob Cécile Magdalene mag oder nicht, wissen wir nicht, wir können nur spekulieren. Jedenfalls nickt Cécile hastig und folgt der Tochter der von Blankenburgs in den Speisesaal. Als sie die geschwungenen Treppen heruntergehen, kann Cécile vom Fenster aus Suzi sehen, der angelt. Angeln. Das würde sie auch gerne. Ganz alleine, ganz still, keiner sagt ihr, was sie zutun und zu lassen hat. Cécile mag Suzi, das wissen wir zwar nicht, aber wir können spekulieren. Weil Suzi, der ist so einer, der redet nicht und der ist gerne alleine und mit dem könnte man gut zusammen alleine sein. Mit Suzi würde sie sicher glücklich sein. Der lässt sie auch mal machen und der würde sicher nicht mehr reden als sie. Wie auch. Kann er ja nicht, der hat ja einen kaputten Kehlkopf.

Das Essen riecht ganz hervorragend, das sagen auch die zum-Essen-Eingeladenen. Gar nicht nach Mäuseproblem. Obwohl die mindestens von 10 der Zutaten schon einmal vor allen anderen genascht haben. Cécile setzt sich so hin, dass sie von ihrem Platz aus durch eines der Fenster an der Treppe gucken kann und in der Ferne Suzi sieht. Mit Suzi würde sie sicher glücklich sein, aber das geht nicht, weil der ja nicht aus gutem Hause ist und sie ohnehin schon jemanden hat, den sie heiraten soll. Pierre heißt er und der redet mehr als Suzi. Was ja auch nicht schwer ist, kaputter Kehlkopf und so. Céciles Vater neben ihr hebt ihr Kinn mit dem Zeigefinger an und lächelt sie kurz, aber bestimmt an.

Das Essen ist vorzüglich. Können wir natürlich nur spekulieren und Cécile auch, die stochert nämlich nur darin herum. Die isst selten mal was, deshalb ist sie auch so dünn. Und weil sie krank ist, aber das ist eine andere Geschichte. Aber die anderen essen. Bis sie kurz unterbrochen werden.

Poppo von Blankenburg erhebt sich von seinem Platz, ein Glas ein seiner rechten Hand. Mit einem kleinen, silbernen Löffel stößt er dagegen, sodass fast alle Gespräche verstummen. Bei den letzten, die noch reden, darunter Magdalene, reicht ein lautes Räuspern des Herrn von Blankenburg aus, um sie zum Schweigen zu bringen. „Meine lieben Gäste. Ich möchte mich bedanken, dass ihr alle hier seid und mit uns speisen möchtet. Wir freuen-“ Ein Geräusch, tick-tick-tick-tick. Alle lauschen, Poppo von Blankenburg läuft die erste Schweißperle über die glatte, glänzende Stirn. Er versucht, seine Rede fortzuführen, aber da hört doch jetzt eh keiner mehr zu. Tick-tick-tick-tick, da ist es wieder! Getuschel bei den Frauen, die Männer versuchen vergeblich, sie zum Schweigen zu bringen, denn die wollen lauschen und jeder will als erstes herausfinden, woher das Geräusch stammt. Männer halt. Und die Frauen, alle am Tuscheln. Frauen halt. Außer Cécile, die guckt sich schweigend um. Und ist auch diejenige, die herausfindet, woher das tick-tick-tick-tick kommt. Es kommt nämlich von dem sich bewegenden Ding zwischen roter, samtiger Tischdecke und Tisch. Stumm zeigt sie mit dem Finger darauf und ich Vater ruft laut „Maus!“. Freut sich natürlich, weil er der ist, der sie zuerst gesehen hat. Männer halt.

Es wird gekreischt, also die Frauen kreischen und die Männer versuchen vergeblich, sie zum Schweigen zu bringen. Irgendwie immer dasselbe Muster, aber Frauen kriegst du nicht zum Schweigen, egal was zu machst. Außer Cécile. Obwohl die ja eh selten spricht. Die kreischt auch jetzt nicht hysterisch rum, sondern packt die Maus. Eine Hand schiebt sie unter die Tischdecke, um sie zu greifen, mit der anderen hält sie sie über der Tischdecke fest. Dann zieht sie die Hand blitzschnell heraus, die Maus fest in der Hand, die guckt blöd. Die Maus. Und alle anderen im Raum, außer Magdalene. Die lacht. Cécile geht hektisch zur großen Eingangshalle, öffnet mit einem Ellenbogen die Haustür und geht in Richtung See. Da kann man so eine Maus schon mal absetzen, denn da ist sie geschützt. Ihr kommt jemand entgegen, aber sie ist noch zu aufgeregt, um das zu bemerken. Erst als sie das Gesicht erkennt, wird ihr das klar. Das ist nämlich Suzi, der ihr entgegen kommt. Seine Angel liegt lässig über der Schulter, unter seinen Arm hat er einen Klappstuhl geklemmt. Er lächelt Cécile an, er nickt freundlich, er gebärdet ein „Hallo“. Sie hat zwar keine Ahnung von Gebärdensprache, aber das Lächeln hat sie verstanden, also lächelt sie zurück.

Suzi guckt auf die Maus, die noch immer in ihrer Hand verweilt, mittlerweile regungslos. Sie erschrickt und lässt die Maus los. „Ich glaub, die Familie von Blankenburg hat ein Mäuseproblem.“ erklärt sie und grinst verschmitzt. Suzi errötet und kratzt sich mit der freien Hand am Hinterkopf. Er nickt wieder. Dann zeigt er auf den Zaun und geht. Cécile schaut noch hinter ihm her, bis er über den Zaun geklettert und dahinter verschwunden ist. Hat erst den Stuhl und die Angel drüber geworfen. Dann sich selbst.

Wir haben ein Mäuseproblem. Und Cécile, die das jetzt auch weiß, die hat ein anderes Problem. Während die Mäuse zu viel fressen, isst sie kaum und überhaupt geht es ihr nicht gut. Und nicht nur wegen des Essens. Und auch nicht nur weil sie ja krank ist. Viel mehr weil sie gar nicht heiraten will, aber muss und weil das eben auch kein Suzi sein wird, den sie heiratet, sondern Pierre. Und dabei kann man mit Suzi viel besser zusammen allein sein. Und auch mal nichts sagen. Wir wissen wirklich wenig und spekulieren viel, aber wenn wir eine Sache wissen, dann, dass Cécile gerne ein Bisschen mehr wie Suzi leben würde. Und mit ihm. Das wissen wir. Die ist nämlich verliebt.

Shari Malzahn